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Multilokale Familien - Kinder partizipieren kaum an Entscheidungen zum Familienarrangement
Viele Kinder in der Schweiz, deren Eltern getrennt sind, leben in verschiedenen Haushalten. Bisher gab es kaum Forschung zum Alltag und Wohlbefinden dieser Kinder. Eine Studie der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) hat sich nun mit der Situation von Kindern und Eltern, die in verschiedenen Haushalten leben, befasst. Die Ergebnisse zur Partizipation von Kindern sind dabei ernüchternd.
Wenn sich Eltern trennen, gilt in der Schweiz der Grundsatz der alternierenden Obhut. Viele Familien sind demnach multilokal – die Kinder leben abwechslungsweise beim einen oder anderen Elternteil. Bislang war die Situation dieser Kinder nur spärlich erforscht. Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen publizierte im Dezember 2022 nun eine Studie zur Situation von Kindern und Eltern, die in verschiedenen Haushalten leben.
Das Marie Meierhofer Institut für das Kind, das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS und Andrea Büchler vom rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich haben die Studie gemeinsam realisiert. Das Autorenteam hat 2‘868 getrenntlebende Mütter und Väter sowie 244 Kinder befragt.
Die Studie untersuchte Kontakte und Betreuungsarrangements, Beziehungsqualität und Wohlbefinden, Aushandlungsprozesse und Mitsprache von Kindern und untersuchte die Auswirkungen sowie günstige und ungünstige Rahmenbedingungen für multilokale Familienarrangements.
Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass das Wohlergehen der Kinder vor allem von der Beziehungsqualität und der Konfliktfähigkeit der Eltern abhängt und sich nicht vom Wohlergehen der Kinder von nicht getrenntlebenden Eltern unterscheidet.
Kinder partizipieren nach wie vor kaum an Entscheidungen über Familienarrangements
Die Studie beschäftigte sich auch mit der Frage, wie Kinder bei Entscheiden über Familienarrangements einbezogen sind. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Nur rund die Hälfte der Eltern hat ihre Kinder in der Altersgruppe zwischen 8 und 17 Jahren beim Aushandeln des Familienarrangements nach ihren Wünschen gefragt, bei jüngeren Kindern war sogar nur knapp ein Viertel. Die Gründe waren, dass Eltern Kinder aus dem Konflikt heraushalten wollten, weil sie der Ansicht waren, es sei so am einfachsten oder das Kind überfordert gewesen wäre. Die Studie hat auch erhoben, ob Kinder von Fachpersonen – der KESB oder einem Gericht – angehört wurden. Nur in einem Zehntel der Fälle wurde das Kind von einer Fachperson angehört.
Die Zufriedenheit der Kinder mit dem Familienarrangement ist demnach auch geringer als die Zufriedenheit der Eltern, zumindest gilt dies für Kinder ab 12 Jahren. Die Autorinnen der Studie weisen zu Recht darauf hin, dass hier ein Spannungsfeld besteht zwischen einem egalitären Wohn- und Betreuungsarrangement und den Wünschen der Kinder. Es sind die Kinder, die zwischen den Haushalten hin und her wechseln, wenn sie bei beiden Eltern leben.
Empfehlungen der EKFF
Die EKFF hat auf Grundlage der Studie neun Empfehlungen zum Thema Elternschaft und Kinderalltag in multilokalen Familien formuliert. Aus Sicht der EKFF soll ein zeitgemässes Familienrecht unabhängig vom Status der Ehe definiert werden. Zudem soll in Patchworkfamilien die Betreuungsverantwortung auch durch Dritte wahrgenommen werden können. Ausserdem fordert die EKFF die Schulen und familienergänzenden Betreuungsstrukturen auf, mit beiden Elternteilen zu kommunizieren und verlangt von den Gerichten und Behörden, das Partizipationsrecht der Kinder auch wirklich sicherzustellen.
Bericht „Wenn Eltern nicht zusammenwohnen – Elternschaft und Kinderalltag“, Juni 2022