Netzwerk Kinderrechte Schweiz
Sandra Husi-Stämpfli: «Das Recht am eigenen Bild muss auch innerhalb der Familie gewahrt werden»
Frau Husi-Stämpfli, welche Herausforderungen stellen sich bei der Publikation von Kinderbildern im Netz?
Wenn Eltern Kinderbilder im Netz teilen, stellt sich die Frage nach dem Recht des Kindes am eigenen Bild. Das Recht am eigenen Bild muss auch innerhalb der Familie gewahrt werden. Dies ist den Eltern oftmals nicht bewusst. Sie lassen ausser Acht, dass Kinder schon früh in der Lage sind, ihren Willen kundzutun. Kinder können z.B. schon sehr früh zum Ausdruck bringen, dass sie in einer bestimmten Situation nicht fotografiert werden möchten. Auch wenn die rechtlichen Anforderungen an die Willensäusserung damit nicht immer sauber erfüllt sind, sind Eltern verpflichtet, die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder zu wahren. Eltern müssen die Kinder fragen, bevor sie Bilder veröffentlichen und die Kinder über mögliche Konsequenzen aufklären. Eltern sind sich dessen aber oftmals gar nicht bewusst.
Die Publikation von Kinderbildern ist nicht verboten. Aber der Persönlichkeitsschutz des Kindes ist in der Verfassung, im Zivilrecht und im Datenschutzrecht verankert. Bei der Veröffentlichung von Kinderbildern handelt es sich um einen privatrechtlichen Kontext, das bedeutet, es braucht immer eine Einwilligung. Die im Zivilrecht verankerte elterliche Sorge erlaubt zwar Eltern, Entscheidungen in Bezug auf ihre Kinder zu treffen – allerdings gilt dies nur für Entscheidungen, die für die Wahrung des Kindeswohls erforderlich sind. Die Publikation von Kinderbildern gehört nicht dazu. Daher ist eine Einwilligung der Kinder erforderlich. Diese Einwilligung muss nicht schriftlich-formal sein, sondern kann im Diskurs zwischen Eltern und Kindern gegeben werden. Dies ist auch schon bei jungen Kindern möglich.
International gilt Frankreich als Vorreiter hinsichtlich des Schutzes von Kindern und Jugendlichen im Netz. Das französische Parlament diskutiert nun ein neues Gesetz, dass das Recht des Kindes am eigenen Bild besser schützen will. Was beinhaltet dieses Gesetz?
Der neue Gesetzesentwurf ist schon das zweite Gesetz in Frankreich, das den Umgang von Eltern mit Kinderbildern im Netz regelt. Das erste Gesetz aus dem Jahr 2020 fokussiert auf die sogenannte Kinder-Influencer*innen (kurz Kidfluencer) -Thematik. Es regelt die Vermarktung von Kindern durch ihre Eltern auf einer arbeitsrechtlichen Ebene. Kidfluencer brauchen neu eine Bewilligung. Die Erträge aus diesen Tätigkeiten müssen auf ein Sperrkonto für das Kind eingezahlt werden. Weiter wurde ein Recht auf Löschung der Bilder verankert und die Gerichte können notfalls einschreiten. Dieses Gesetz war ein rechtlicher Durchbruch, da es die Tätigkeit von Kidfluencern als Arbeit einstuft.
Der neue Gesetzesentwurf geht nun einen Schritt weiter: Es geht stärker um das Innenverhältnis zwischen Eltern und Kindern. Das Recht des Kindes am eigenen Bild soll gestärkt und das exzessive Teilen von Kinderbildern im Netz durch Eltern (Sharenting) soll erheblich beschnitten werden.
Wie kann das neue französische Gesetz konkret verhindern, dass Eltern Kinderbilder exzessiv verbreiten?
Das Gesetz ist in jedem Fall ein starkes Zeichen für den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Kinder. In Bezug auf die Umsetzung in der Praxis gibt es aber noch grosse Bedenken. Der neue Entwurf, der nun durch den französischen Senat (Anm.d.Red. das Oberhaus des französischen Parlaments) beraten werden muss, hat eher einen Grundrechtscharakter. Die Verantwortung der Eltern steht im Vordergrund. Eigentliche Mechanismen, um Sharenting zu verhindern – wie z.B. eine Offizialmaxime oder ein Anzeigemechanismus – sind nicht vorgesehen. Es stellt sich beim aktuellen Entwurf daher die Frage, was dies für die Praxis bedeutet. Die Assemblée nationale (Anm. d. Red. Unterhaus) hat den Gesetzesentwurf deshalb nochmals an den Senat zurückgewiesen. Zur Debatte steht der Detaillierungsgrad des Gesetzes. Es ist möglich, dass es nochmals Anpassungen geben wird. Die Notwendigkeit des Gesetzes ist aber unbestritten.
Seit dem 1. September 2023 ist das neue Datenschutzgesetz in der Schweiz in Kraft. Ist es ausreichend, um die Rechte von Kindern im Netz zu schützen?
Ob das neue Datenschutzgesetz ausreichend ist, wird sich erst noch weisen müssen. Ein Gesetz entfaltet Wirkung, wenn es ernst genommen und gelebt wird. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Eltern müssen sich im Klaren sein, dass sie an das Datenschutzgesetz gebunden sind. Und darüber hinaus: Eltern müssen die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder ernst nehmen.
Was in der Schweiz fehlt, ist eine Regelung der Kidfluencer-Thematik, wie dies Frankreich vorgemacht hat. Dieses Phänomen hat massiv überhandgenommen und geht weit über Sharenting hinaus. Das Kind wird dabei regelrecht vermarktet, es wird zu einem Brand. Bei Kidfluencern ist der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte viel breiter als beim Sharenting, da sämtliche Lebensbereiche der Kinder vermarktet werden (welches Spielzeug nutzt das Kind? Wo verbring es seine Ferien? Was isst es?). Klassische Arbeitszeitregelungen, wie wir sie z.B. früher von Kindermodel-Verträgen kannten, werden ausgehebelt.
Die Kidfluencer-Thematik kann nicht unter bestehende Gesetze subsumiert werden. Hier gibt es in der Schweiz eine gesetzliche Lücke. Es braucht eine klare arbeitsrechtliche Regelung, die den Gefahren im Netz Rechnung trägt.
Nochmals zurück zum Phänomen des Sharenting. Welche Möglichkeiten haben Kinder in der Schweiz, sich dagegen zur Wehr zu setzen?
Im Prinzip stehen auch Kindern zivilrechtliche Mechanismen offen, sie können Klage wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte einreichen. Auch das Datenschutzgesetz sieht die Möglichkeit von zivil- und auch strafrechtlichen Klagen vor. Auch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) könnten zum Zuge kommen. In der Praxis ist es jedoch für Kinder nicht realistisch, an die Kesb oder an ein Gericht zu gelangen. Dies gilt insbesondere für jüngere Kinder. Es bräuchte vorgelagerte Mechanismen in Form von niederschwelligen Anlaufstellen, an die sich Kinder wenden können. Auch Personen im Umfeld des Kindes sind gefragt, die Eltern auf ihren problematischen Umgang mit Kinderbildern aufmerksam machen. Schliesslich spielt die Prävention eine wichtige Rolle: Es gilt, Eltern verstärkt für die Problematik zu sensibilisieren.
Sandra Husi, Dr. iur, studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Basel und Freiburg im Breisgau in Deutschland und schloss einen Executive Master of Public Administration an der Universität Bern ab. Seit 2015 ist sie Datenschutzberaterin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD und leitet seit 2021 den Stabsbereich Digital Compliance und Governance des EJPD. Die Digitale Transformation beschäftigt Sandra Husi-Stämpfli aber nicht nur im Kontext des Verwaltungshandelns: In ihren zahlreichen privaten Publikationen beleuchtet sie die Auswirkungen der Digitalisierung unseres Alltags, wobei sie sich in den vergangenen drei Jahren besonders mit dem Persönlichkeitsschutz von Kindern in der digitalisierten Familie auseinandergesetzt hat. Sandra Husi-Stämpfli gibt in diesem Interview ihre persönliche Einschätzung wieder.