Parlament
Rechtskommission des Ständerats will kein strafrechtliches Verbot von Eingriffen an Kindern mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale
Die Motion 22.3355 fordert, jegliche chirurgischen oder hormonellen irreversiblen Eingriffe (auch als geschlechtsverändernd bezeichnet) an inneren und äusseren Geschlechtsmerkmalen oder Genitalien von urteilsunfähigen Kindern strafrechtlich zu verbieten. Weiterhin möglich bleiben sollen Eingriffe, die medizinisch nicht aufschiebbare oder zwingende sind, um eine Lebensfahr oder ehebliche Gefahr für die Gesundheit des Kindes abzuwenden.
Der Motionär macht in seiner Begründung geltend, dass eine angeborene Variation der Geschlechtsmerkmale nicht zwingend zu Gesundheitsproblemen bei Kindern führen. Hormonellen und chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen seien hingegen mit grossen gesundheitlichen Gefahren verbunden, etwa schwerwiegende Traumatisierungen und Depressionen, langfristige gesundheitliche Folgen wie Osteoporose oder der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit.
Bis heute sei nicht sichergestellt sei, dass Kinder mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale im Kindesalter keiner unnötigen medizinischen oder chirurgischen Behandlung unterzogen werden, so der Motionär. Er betont, dass Empfehlungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen, darunter des UN-Kinderrechtsausschusses, bislang nicht umgesetzt wurden. Dieser forderte im Herbst 2021 ein Verbot medizinischer oder chirurgischer Behandlungen bei intergeschlechtlichen Kindern, wenn diese Eingriffe sicher aufgeschoben werden können, bis das Kind seine informierte Zustimmung geben kann.
Rechtskommission des Ständerats fokussiert auf medizinische Perspektive
Gemäss Medienmitteilung unterstützt die Rechtskommission des Ständerats die Stossrichtung der Motion, die unnötige Eingriffe an betroffenen Kindern verhindern möchte. Sie vertritt allerdings die Auffassung, dass dieses Ziel nicht mit einem strafrechtlichen Verbot, sondern mit der Gewährleistung einer kompetenten und spezialisierten Behandlung erreicht werden kann. Die Kommission hat an ihrer Sitzung eine Kommissionsmotion verabschiedet (23.3967). Diese will den Bundesrat beauftragen, dafür zu sorgen, dass die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizinisch-ethische Richtlinien für die Diagnose und Behandlung dieser Kinder rasch erarbeiten kann, im Sinne der Konkretisierung der Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Die Kommission hält weiter fest, dass Organisationen von Betroffenen in diesen Prozess miteinbezogen werden sollen.
Einschätzung von InterAction Schweiz
Der Verein InterAction Schweiz vertritt und berät intergeschlechtliche Menschen bzw. Menschen mit einer angeborenen Variation der Geschlechtsmerkmale in der Schweiz und ist Mitglied im Netzwerk Kinderrechte Schweiz. InterAction Schweiz bedauert die einstimmige Ablehnung der Motion 22.3355 von Ständerat Matthias Michel durch die RK-S. Ein strafrechtliches Verbot von unverhältnismässigen chirurgischen und hormonellen Eingriffen würde Rechtssicherheit schaffen und die körperliche Integrität und Selbstbestimmung betroffener Kinder schützen. Neben dem UN-Kinderrechtsausschuss (2021) fordert auch der UN-Frauenrechtsausschuss (2022) ein Verbot und der UN-Folterrechtsausschuss (2023) beurteilt die aktuelle Praxis als eine Form der Folter. Eine strafrechtliche Regelung kann differenziert umgesetzt werden und würde zudem medizinischen Fachpersonen und Eltern Orientierung bieten, welche Behandlungen zulässig sind, und welche nicht. InterAction Schweiz ist auch von der Kommissionsmotion der RK-S nicht überzeugt. Die Entwicklung medizinisch-ethischer Richtlinien allein ist nicht ausreichend, um Kinder vor unverhältnismässigen Eingriffen zu schützen. Solche Leitlinien machen nur in Verbindung mit einer rechtlich verbindlichen Regelung Sinn. Insgesamt bleiben mit den Vorschlägen der RK-S die betroffenen Kinder ungeschützt.
Weitere Informationen:
Medienmitteilung der RK-S vom 16. August 2023
Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses an die Schweiz, 2021