Netzwerk Kinderrechte Schweiz
Bund will die Beziehungspflege zwischen Kindern und inhaftierten Eltern verbessern
Über die Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil ist in der Schweiz bisher wenig bekannt. Es bestehen grosse Lücken im Umgang der Kinder mit dem inhaftierten Elternteil und weitreichende Unterschiede zwischen den einzelnen Vollzugseinrichtungen. Der Bund hat dazu einen Bericht verabschiedet und Massnahmen formuliert. Besonderer Handlungsbedarf besteht bei der Harmonisierung der Kontaktmöglichkeiten zwischen betroffenen Kindern und ihren inhaftierten Eltern.
Artikel 9 der UN-Kinderrechtskonvention garantiert Kindern, die von ihren Eltern getrennt leben, regelmäßige persönliche Beziehungen und Kontakte zu beiden Elternteilen. Dies gilt auch für Kinder, deren Eltern inhaftiert sind.
In der Schweiz wurde der Situation dieser Kinder bisher zu wenig Beachtung geschenkt und die Informationslage ist ungenügend. Dies hat der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes bereits mehrfach festgestellt und der Schweiz bereits zweimal, 2015 und 2021, empfohlen, Daten und Informationen über Kinder mit einem inhaftierten Elternteil zu erheben. Dies mit dem übergeordneten Ziel, eine persönliche Beziehung zwischen den Kindern und ihren Eltern durch regelmässige Besuche, angemessene Dienstleistungen und geeignete Unterstützung zu gewährleisten.
Der Bund hat in seinem Massnahmenpaket zur Umsetzung der Empfehlungen von 2018 beschlossen, die Situation dieser Kinder in der Schweiz zu analysieren. Insbesondere sollte untersucht werden, ob es statistische Daten zu diesem Thema gibt und wie sich die Beziehungen zwischen Kindern und ihrem inhaftierten Elternteil in der Schweiz gestalten.
Der Bericht des Bundesamtes für Justiz (BJ) zu diesem Thema liegt nun vor. Der Bericht basiert auf einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
ZHAW-Studie: Perspektive und Bedürfnisse der Kinder ungenügend berücksichtigt
Die Studie der ZHAW zeigt, dass sich die Angebote der Vollzugsanstalten in Bezug auf die Kontaktmöglichkeiten der Kinder zu ihren Eltern stark unterscheiden. Besonders problematisch ist die Situation in der Untersuchungshaft: Hier sind Eltern-Kind-Kontakte besonders stark eingeschränkt - Sicherheitsbedenken überwiegen.
Die Studie stellt fest, dass es für die betroffenen Kinder wichtig ist, mit dem inhaftierten Elternteil in Kontakt zu bleiben. Die konkreten Besuchsregelungen in den Justizvollzugsanstalten erleben die Kinder jedoch mehrheitlich als unflexibel. Sie wünschen sich mehr und flexiblere Kontaktmöglichkeiten, die natürlicher gestaltet sind und mehr Privatsphäre bieten. Zentral wäre für die Kinder auch eine Mitbestimmung über die Form und Häufigkeit der Besuche.
Die Studie stellt weiter fest, dass die Eltern-Kind-Beziehungen bei der gesamten Vollzugsplanung und den Vollzugsentscheidungen eine untergeordnete Rolle spielen. Sicherheitsbedenken wie Rückfallgefahr oder Fluchtgefahr stehen im Vordergrund. «Die Perspektive und Bedürfnisse der Kinder erfahren im gesamten Strafverfahren keine flächendeckende Berücksichtigung», so die Autor*innen der Studie.
Geplante Massnahmen von Bund und Kantonen
Der Bericht des Bundesamts für Justiz skizziert nun eine Reihe von Massnahmen, um diese Lücken zu schliessen und die Praxis zu harmonisieren:
- Der Bericht anerkennt die Notwendigkeit, die Gesellschaft und die involvierten Behörden für die Thematik zu sensibilisieren. Bestehende Leitfäden und Empfehlungen zur Berücksichtigung der familiären Situation sollen überprüft und harmonisiert werden. Dies gilt für alle Phasen des Strafverfahrens, von der Festnahme des Elternteils über den Strafprozess und die Entscheidungen von Gericht und Staatsanwaltschaft bis hin zum Strafvollzug.
- Bei Subventionen für Neu- und Umbauten von Vollzugsreinrichtungen soll sicherstellt sein, dass die Zugänge zum Besuchsbereich sowie Besucherräume kinderfreundlich gestaltet werden und die Bedürfnisse von Kindern konsequent berücksichtigt werden.
- Die Schaffung von familienfreundlichen Kontaktmöglichkeiten soll vorangetrieben werden. Die Konferenz der Kantonalen Leitenden Justizvollzug (KKLJV) wird bestehende Empfehlungen analysieren und anschliessend das weitere Vorgehen formulieren.
- Zudem will das BJ ein interdisziplinäres Austauschgefäss initiieren, das den Grundstein für ein nationales Netzwerk zum Thema Angehörigenarbeit von inhaftierten Personen legen soll.
Keine umfassende nationale Statistik geplant
Der UN-Kinderrechtsausschuss hat der Schweiz wiederholt empfohlen, die Datenlage zur Situation der betroffenen Kinder zu verbessern und für die Formulierung von Programmen zur psychologischen und sozialen Unterstützung betroffener Kinder zu nutzen. Auch die Studie der ZHAW empfiehlt dringend die baldige Durchführung einer repräsentativen Studie, die erstmals für die ganze Schweiz Informationen darüber erhebt, wie häufig inhaftierte Personen Kinder haben und welche Konstellationen hierbei vorkommen. Konkrete Massnahmen zur Umsetzung dieser Empfehlungen sind im Bericht des BJ jedoch nicht vorgesehen. Auch der Aufbau einer umfassenden, gesamtschweizerischen Statistik zur Familiensituation von Inhaftierten wird nicht weiterverfolgt.
Einschätzung des Netzwerks Kinderrechte Schweiz
Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz begrüsst ausdrücklich die Bestrebungen des Bundes, die Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil zu verbessern. Dass es bislang vom Wohnkanton abhängt, ob Unterstützungsangebote für betroffene Kinder bestehen und von der konkreten Vollzugsanstalt, in welchem Umfang Kinder den Kontakt zu ihrem inhaftierten Elternteil pflegen können, ist ein nicht länger haltbarer Zustand. Ein Wermutstropfen bleibt, dass hinsichtlich der Datenerhebung keine umfassende Statistik und keine weiterführenden Studien geplant sind. Aus Sicht des Netzwerks Kinderrechte Schweiz ist weiterführende Forschung unter Einbezug der Perspektive betroffener Kinder dringend notwendig.
Bericht EJPD (BJ). Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil in der Schweiz, Mai 2023.
Filmtipp zum Thema:
«SRF DOK»: Mitgefangen - Wenn Angehörige ins Gefängnis müssen, leidet die ganze Familie. Besonders betroffen sind die Kinder. Doch das Schweizer Justizsystem schenkt ihnen kaum Beachtung. Sie sind mitgefangen – Leidtragende einer Straftat, mit der sie nichts zu tun haben.