Netzwerk Kinderrechte Schweiz
NFP 76 „Fürsorge und Zwang“ – wichtige Impulse für die Umsetzung der Kinderrechte
Das Nationale Forschungsprogramm „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76) legt im Mai dieses Jahres eine Synthese seiner Forschungsergebnisse vor. Die wegweisenden Forschungsarbeiten identifizieren Schwachstellen des Sozialwesens. Im Mittelpunkt aller Arbeiten steht die Frage, wie die Rechte betroffener Kinder und Erwachsener besser gewahrt werden können. Damit sind die Ergebnisse von grosser Bedeutung für die Diskussion über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in der Schweiz.
Das Nationale Forschungsprogramm „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76) hat von 2018 bis 2023 Merkmale, Mechanismen und Wirkungen des schweizerischen Sozialwesens in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit erforscht. Es ist Teil der wissenschaftlichen Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, von denen im 20. Jahrhundert mehrere hunderttausend Kinder und Erwachsene betroffen waren. Das Forschungsprogramm umfasst 29 Projekte, an denen rund 150 Forschende beteiligt waren.
Kontinuitäten in die Gegenwart
Das NFP 76 hat sich nicht nur mit der Aufarbeitung der Vergangenheit befasst, es untersucht die Langzeitwirkung der damaligen Praxis und erforscht Kontinuitäten in die Gegenwart. Im Zentrum steht die Frage, welche Mechanismen und Wirkungsweisen des Sozialwesens dazu führen, dass die Rechte betroffener Kinder und Erwachsener missachtet oder gewahrt werden.
Die Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Themen und Aspekten von Fürsorge und Zwang im Sozialwesen. Sie befassen sich mit politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, analysieren den normativen rechtlichen Rahmen und die damit verbundene Rechtspraxis, befasst sich mit der Rolle staatlicher und privater Akteure und erforschen Lebenswege Betroffener. Im Fokus stehen der Kindes- und Erwachsenenschutz, die stationäre Erziehung und Unterbringung sowie das Pflegekinderwesen.
Die Ergebnisse des Forschungsprogramms identifizieren Schwachstellen des Sozialwesens in der Schweiz. Betroffene sind teils auch heute noch mit problematischen Praktiken und Rahmenbedingungen konfrontiert – beispielsweise im Hinblick auf gesetzliche Regelungen oder die Finanzierung von Leistungen.
Wegweisende Forschung mit Blick auf die Umsetzung der Kinderrechte
Die Ergebnisse sind auch für die Diskussion um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in der Schweiz wegweisend. Im Folgenden sind einige der zahlreichen Impulse aufgeführt:
- Problematische Aspekte der damaligen Praxis wirken bis heute nach, beispielsweise wenn auch heute Familien in prekären Verhältnissen überdurchschnittlich häufig von Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzes betroffen sind. Oft überlagern sich dabei wirtschaftliche Prekarität, gesundheitliche Probleme, häusliche Gewalt und Migrationserfahrungen. Sozialdienste tendieren zudem bei Kindswohlgefährdungen dazu, prekäre Verhältnisse auf ein Versagen der Eltern zurückzuführen.
- Auch wenn das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht zu einer Harmonisierung und Verbesserung des Rechtsschutzes geführt hat, bestehen im Kindesschutz nach wie vor grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Die kantonale Zuständigkeit für das Verfahren und die Behördenorganisation führen zu ungleicher Praxis, insbesondere in Bezug auf die Mitwirkungsrechte der Betroffenen. Ein einheitliches, detailliertes Verfahrensrecht scheint damit unumgänglich.
- Die ausserfamiliäre Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ist auf Bundesebene nur rudimentär geregelt. Die Ausgestaltung des Pflegekinderwesens ist grösstenteils den Kantonen überlassen und entsprechend uneinheitlich. Rechte und Pflichten von Pflegeeltern sind nicht einheitlich geregelt. Dies, obwohl es sich dabei um eine öffentliche Aufgabe und zudem um eine höchste komplexe Betreuungsform handelt. Es bedarf damit einer stärkeren Professionalisierung im Pflegekinderwesen, damit die Rechte der betroffenen Kinder schweizweit gewahrt werden.
- Auch in Bezug auf die Finanzierung des Sozialwesens bestehen grosse kantonale Unterschiede, beispielsweise in Bezug auf den Kindes- und Erwachsenenschutz. Die Ergebnisse zeigen, dass finanzielle Anreize eine wichtige, wenn auch schwer durchschaubare Rolle spielen bei der Anordnung von Massnahmen – und damit auch auf die Frage, welche Unterstützung Betroffene erhalten. Es braucht daher eine schweizweite Harmonisierung der Finanzierung im Kindesschutz.